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01.02.2010

Dr. Dorothea Hillmann (Schulleiterin 1948–1961)

Nachruf von Dr. Renate Scharffenberg

Ostern 1961 nahm Dorothea Hillmann Abschied von der Elisabethschule, die sie seit 1948 als Direktorin geleitet hatte. In ihrer Rede zur Entlassung der Abiturientinnen betonte sie:

„Wir haben jahrelang in einer festen Ordnung gestanden, die ganz bestimmte, unüberhörbare Forderungen an uns stellte, denen nachzukommen uns manchmal beschwerlich war, die wir als Ganzes aber anerkannten, ja liebten. Das ist nun vorbei, wir müssen zu einer neuen Ordnungunseres Daseins finden, wir sind sozusagen in die Freiheit entlassen und es fragt sich, was wir damit anfangen. Sie meinen, bei mir sei das denn doch etwas ganz anderes, es sei der Ruhestand, von dem mancher mir sagt, ich hätte in ihm nun einpaar schöne, gemächliche Jahre verdient. Es lächert mich, wenn ich dergleichen höre, und ich denke an Hermann Hesses Gedicht, das eine von Ihnen in der Prüfung interpretierte, in dem es heißt: Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne. Das scheint mir der Situation besser zu entsprechen, - meiner und auch Ihrer.“

In diesen Worten klingt leitmotivisch eine Grunderfahrung ihres Lebens an; immer wieder hat Dorothea Hillmann neue Anfänge setzen müssen, war stets bereit, sich neuen Lebensanforderungen zu stellen, neue Verantwortungzu übernehmen.

Vorgeformt wurde dies bereits in ihrer Kindheit. Am 15. Januar 1892 wurde „Dorothea Luise Eleonore Hillmann in Wesel am Niederrhein als Tochter des damaligen Pfarrers Johannes Hillmann und seiner Ehefrau Luise, geb. Hennicke“ geboren. Nicht lange darauf wurde dem Vater der dortige Wirkungskreis zu eng, und die Familie siedelte nach Braunschweig über – für zweieinhalb Jahre –,wo der Vater zuletzt Hauptpastor an St. Katharinen war. Hier widmete er sich besonders dem „Arbeiterstand“, gehörte er doch zum Kreis um Friedrich Naumann und war dem Programm der nationalsozialen Bewegung verpflichtet. 1899 bewarbsich Pastor Hillmann um eine Stelle an der evangelisch-reformierten Gemeinde in Hamburg: in der Großstadt hoffte er seine seelsorgerische Tätigkeit unter den Arbeitern und ihren Familien verstärkt ausüben zu können.

Für seine älteste Tochter Dorothea bedeutete dies, dass sie im Herbst 1899 in Hamburg auf einer privaten Vorschule für die Töchter aus besseren Kreisen eingeschult wurde – bis dahin hatte sie ihre Mutter unterrichtet, die selber das Lehrerinnenexamen abgelegt hatte.

Das Leben der Familie, zu der die jüngeren Brüder Hans und Kurt, sowie erst eine, dann zwei kleine Schwestern gehörten, veränderte sich 1900 einschneidend durch den „Fall Hillmann“, der weit über Hamburg hinaus in der Presse Widerhall fand. Entstanden war dieser aus dem Konflikt zwischendem großbürgerlichen Kirchenrat der Gemeinde und ihrem Pastor; man fühlte sich angegriffen durch dessen angeblich sozialdemokratische und damit umstürzlerische Neujahrspredigt. Als Pastor Hillmann dann am 14. Januar 1900 über das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus predigte (Lukas 16, 19–26), war die Empörung dieser Herren groß und sie wollten ihn entlassen, zumal er in den folgenden Auseinandersetzungen seiner Überzeugung im Hinblick auf die sozialen Forderungen des Christentums unerschütterlich treu blieb. Zwar konnte dem Pastor Hillmann nicht gekündigt werden, weil in der evangelisch-reformierten Kirche die Lehrfreiheit gewährleistet war und auch die übrigen Vorwürfe, die sich auf sein allzugeringes Standesbewusstsein richtete, dazu nicht ausreichten – allen Ernstes wurde ihm vorgeworfen, er habe seinen Kindern erlaubt, am Sandberg hinter dem Pfarrhaus mit den Nachbarskindern zu spielen: Kleine-Leute-Kindern –, aber nach einem Vergleich, der seine Existenz für höchstens vier Jahre bzw. bis zur Übernahme einer neuen Stelle sicherte, verließ Pastor Hillmann Hamburg.

Frau Hillmann hat in der Geschichte ihrer Familie, die sie in den letzten Lebensjahren niederschrieb (sie reicht bis 1910), diesem „Fall Hillmann“ eine gründlich recherchierte Darstellung gewidmet, die zugleich die prägende Kraft verdeutlicht, die das Wesen und das Verhalten ihres Vaters für sie gehabt haben, auch wenn es gewiss ein schwieriger Vater war, die seiner Ältesten sehr früh Verantwortung nicht nur für die vier jüngeren Geschwister übertrug.

Die Hoffnung auf eine Pfarrstelle in Bremen realisierte sich nicht, auch der Plan, als Pastor an die deutsche Gemeinde in Honolulu zu gehen, zerschlug sich. So entschloss sich Johannes Hillmann, den Pfarrerberuf ganz aufzugeben und in den Schuldienst zu gehen. Von Bremen zog man nach Marburg, wo der Vater zum Erwerb einer weiteren Lehrbefähigung neben Religion (die das Recht zum Deutschunterricht einschloss) und Philosophie im Wintersemester 1901/02 Geschichte studierte und im Mai 1902 bereits das Staatsexamen ablegte.

So kam Dorothea Hillmann als Schülerin auf die Höhere Töchterschule (die spätere Elisabethschule), deren Direktorin sie dann fast 50 Jahre später werden sollte.

In der Familiengeschichte heißt es:

„Was ich nun erzähle, habe ich in seiner vollen Bedeutung erst sehr viel später erfahren, als eine meiner ehemaligen Klassenkameradinnen in Frankfurt als Kollegin mit mir in der Eysseneckstraße wohnte; aber es ist so charakteristisch für das damalige Marburg, dass eine ausführliche Darstellung lohnt: Von den 16 kleinen Mädchen, wir waren alle etwa neun Jahre, war die eine Hälfte Professorentöchter, die andere das, was man Bürgertöchter nannte, ihre Väter waren Kaufleute und Handwerker. Uns gegenüber wohnte der Professor Mirbt, mit dem Vater gut bekannt war, seine Tochter Ida ging in meine Klasse, wir hatten also den gleichen Schulweg und befreundeten uns bald, so rechnete man mich zu den Professorentöchtern. Zwischen den beiden Gruppen bestand nicht gerade Feindschaft, aber es waren auch keine freundschaftlichen Beziehungen, man lud sich gegenseitig nicht zu Geburtstagen und ähnlichen Kindervisiten ein, jede Gruppe blieb unter sich bis eine der Bürgertöchter mich einlud und ich die Einladung selbstverständlich annahm, ich ahnte ja nichts von den gesellschaftlichen Gegensätzen, und Vater als Freund und Gesinnungsgenosse von Friedrich Naumann, Mutter mit ihrer Herrenhutisch geprägten Erziehung hätten mich vermutlich ernstlich zurechtgewiesen, wenn ich mich auf den Professorenkinderstandpunkt gestellt hätte. Ich ging also fröhlich hin und merkte gar nicht, dass von den Professorentöchtern keine da war. Als dann mein eigener Geburtstag kam, lud ich alle ein, bei denen ich gewesen war, und zum ersten Mal trafen sich bei uns beide Gruppen. Der Erfolg war, das hat man mir dann später erzählt, dass sich von da ab die gesellschaftlichen Grenzen verwischten, nicht mein Verdienst, sondern meine Ahnungslosigkeit.“

Vor Ende Mai 1902 trat der Vater eine Stelle in Elberfeld an, der Vorbereitungsdienst wurde dem fast Vierzigjährigen erlassen: für Dorothea war dies schon der dritte Schulwechsel, und bereits 1906 ging sie aus der Höheren Töchterschule in die Kurse über, die Mädchen zum Abitur vorbereiten sollten, denn die Eltern hofften darauf, dass bald auch in Preußen Frauen zum Studium zugelassen werden sollten. Und wieder nach einem Jahr rief man den Vater, inzwischen Professor Hillmann, nach Frankfurt.

Rechtzeitig für einen zukunftseröffnenden Abschluss kam Dorothea Hillmann so 1908 auf die Schillerschule in Frankfurt am Main, wo sie 1911 eine reguläre und zum vollen Studium berechtigende Reifeprüfung ablegen konnte, für Mädchen damals noch eher die Ausnahme als die Regel. Das Abiturzeugnis weist bereits ihr Interesse für Religionslehre, Deutsch und Geschichte aus, im Studium trat das Fach Kunstgeschichte hinzu. Frau Hillmann studierte von 1911 bis 1915 in Berlin, Bonn und Straßburg, bestand 1915 in Bonn ihr Staatsexamen und promovierte neben dem Referendariat, das sie seit Oktober 1915 an ihrer alten Schule in Frankfurt ableistete, mit der Arbeit „Studien über Goethes Sehen“, die Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte verband (Bonn 1916).

Ihre Dissertation trägt die Widmung: „Meinen im Kampf fürs Vaterland gefallenen Brüdern Hans und Kurt“ – die Familie war durch den Krieg schwer getroffen; so ist es verständlich, dass Dorothea ins Elternhaus nach Frankfurt zurückkehrte, freilich nicht für lange. In ihrem Lebenslauf von 1946 (der für die Besatzungsmacht auch in einer englischen Fassung vorgelegt wurde), heißt es dann:

„Ostern 1918 wurde ich als Studienrätin am Lyzeum in Remscheid angestellt und war dort bis Ostern 1926 tätig. Dann ließ ich mich nach Frankfurt a. M. an die Humboldtschule versetzen, die von Ostern 1928 als Studienanstalt ausgebaut wurde. Von Ostern 1929 bis zur Auflösung der Schule 1932 (aufgrund der Brüningschen Sparmaßnahmen) unterrichtete ich vorwiegend auf der Oberstufe. Während dieser Zeit nahm ich an einer Reihe von Arbeitstagungen teil, die mich in einen Kreis von Erziehern führten, die an einer Erneuerung des Unterrichtes arbeiteten. Nach der Auflösung der Humboldtschule war ich bis Ostern 1933 an der Herderschule tätig. Dann blieb ich ein halbes Jahr unbeschäftigt, weil man nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus mit meinem Abbau rechnete. Im Herbst 1933 wurde ich an das Lyzeum in Höchst überwiesen. Ich durfte dort nur in den unteren Klassen unterrichten. Um möglichst wenig in meinen Fächern, die zu den sogenannten Gesinnungsfächern rechnen, zu beschäftigen, gab man mir den Unterricht in Sport und Naturkunde, obwohl ich darin niemals gearbeitet hatte. Zum 1. Dezember 1934 pensionierte man mich nach § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, da man kein Anklagematerial, das meine Entlassung nach § 4 möglich gemacht hätte, von meinen ehemaligen Schülerinnen bekommen konnte. Die Gründe für meine Pensionierung wurden mir offiziell nicht mitgeteilt, doch wurde mir wahrscheinlich gemacht, dass meine Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei und zu dem oben erwähnten Erzieherkreis mich als untragbar erscheinen lasse.“

Dorothea Hillmann hatte die Mitteilung, dass sie aufgrund des Gesetzes vom 7. April 1933 in den Ruhestand versetzt worden sei, in Berlin am 10. August 1934 ausgefertigt erhalten. Damals blieben ihr 276,41 RM Rente als Ruhegehalt „nach 20 Jahren und 289 Tagen Berufstätigkeit“; es waren 55% ihrer Bezüge.

Der Lebenslauf fährt fort:

„Seitdem habe ich wissenschaftlich gearbeitet auf dem Gebiet der christlichen Ikonographie, der Kunst- und Kulturgeschichte. Meine wissenschaftlichen Arbeiten konnten nur zu einem kleinen Teil veröffentlicht werden, da die Zeitschriften, die dergleichen annahmen, vor allem die Christliche Kunst, ihr Erscheinen einstellen mussten. Daneben gab ich Kurse in Kunst- und Kulturgeschichte, deren Teilnehmer junge Menschen waren, die nach mehr suchten, als der Schulunterricht ihnen noch bieten konnte, und Erwachsene, die meine Einstellung kannten und deshalb von mir eine ernsthafte Vertiefung ihrer Bildung erhofften. Seit der endgültigen Niederlage Deutschlands habe ich mich mit den Problemen der Erneuerung des Schulwesens beschäftigt und hoffe, auf diesem Gebiet etwas leisten zu können.“

Zu den Anregern der von Frau Hillmann erwähnten Arbeitstagungen zur Neugestaltung des Unterrichtes gehörte ihr Schwager Adolf Reichwein, der 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Das Jahr 1945 erlebte sie als Befreiung. Auf den Verlust ihrer eigenen Wohnung in der Adickes Allee 23 in Frankfurt, die „von den Amerikanern beschlagnahmt wurde“, ging sie nicht ein, davon erfährt man erst aus dem Antrag auf Erstattung der Umzugskosten nach Zuweisung der Räume Ockershäuser Allee 3. Zwischenzeitlich hatte sie im Hause ihres Vaters in Frankfurt-Eschersheim eine Bleibe gefunden.

Vor ihrer Übernahme in den hessischen Schuldienst wurde „Frl. Dr. Hillmann der Militärregierung, Abt. Education and Religious Affairs“ vorgestellt und 1947 von der Spruchkammer Frankfurt als „nicht betroffen“ eingestuft. Ein Wiedergutmachungsbescheid von 1952 legte fest, dass die Zeit vom 1. Dezember 1934 bis zum 13. März 1946 auf die ruhegehaltsfähige Dienstzeit anzurechnen sei.

Dorothea Hillmann war früh in die SPD eingetreten: Im Nachruf der Partei ist von ihrer mehr als 50-jährigen Mitgliedschaft die Rede. Auch ihre Marburger Jahre zeugen von ihrem politischen Einsatz, bei den Kommunalwahlen 1952 wurde sie gewählt und war bis 1968 als Stadtverordnete in verschiedenen Gremien tätig, seit 1958 z.B. im Stadtschulvorstand. Diese Stellung kam auch der Elisabethschule zugute, als die Planung und der Bau an der Schwangasse durchzusetzen waren. Das Schulgebäude an der Universitätsstraße war 1878 ursprünglich für 250 Schülerinnen ausgelegt, 1951/52 besuchten fast 800 das inzwischen umgebaute und erweiterte Schulhaus. 1954 war die Planung bereits angelaufen für den „Neubau einer höheren Mädchenschule auf dem Gelände der Schwangasse“, am 15. Juli 1955 wurde der Grundstein gelegt. In ihrer Rede verwies Frau Hillmann, ausgehend davon, dass kurz zuvor alle dem Gleichheitsgrundsatz von Artikel 3 des Grundgesetzes entgegenstehenden Gesetze aufgehoben worden waren, darauf, dass 1878, als man das alte Schulhaus errichtete, Ibsens „Nora“ uraufgeführt wurde und fuhr fort:

„Nora hat ihr Menschentum gefunden. Sie ist kein Spielzeug mehr. Aber sie will auch nicht in das andere Exrem verfallen, sie strebt nicht nach der Alleinherrschaft. Sie hat gelernt, dass die Aufgaben nur gemeinsam gelöst werden können. Nora? Wir alle. Und so geht denn mein Wunsch dahin: möge auf diesem Grundstein eine Schule entstehen, in der sich Mädchen frei und glücklich zu Frauen entwickeln, die, wo immer Gott ihnen ihren Platz im Leben anweist, ihn ganz ausfüllen, der Verantwortung bewusst, die sie zu tragen haben, nicht keuchend unter der auferlegten Last, sondern erhobenen Hauptes, freudig ihres Daseins und ihrer Augabe bewusst.“

Am 18. Juli 1957 konnte Richtfest gefeiert werden, „dieses mächtige 4-geschossige Gebäude“ nahm bald darauf die Oberstufe auf. Ein zweiter Bauabschnitt folgte, und am 13. Juli 1960 zogen die Schülerinnen der Klassen Sexta bis Obertertia ins neue Haus, nachdem in einem großen Abschiedsfest vor Abbruch der alten Schule alle Räume bunt ausgemalt werden durften. In ihrer Rede zur Grundsteinlegung hatte Frau Hillmann knapp umrissen, worum es ihr in Bildung und Erziehung ging. Während ihrer Tätigkeit im Hessischen Kultusministerium in den Jahren 1946 bis 1948 hatte sie an der Konzipierung der Schulreform mitgearbeitet – dann jedoch wollte sie deren Inhalte und Verfahren vor Ort umsetzen, wobei ihr die Probleme deutlich vor Augen standen. Sowohl im Studienseminar, das sie bis 1954 leitete, als auch an ihrer und den anderen Marburger Schulen gab es durchaus Widerstände gegen die neuen Zielsetzungen. In einem Brief von 1958 schrieb sie an einen jungen Kollegen, der gerade zueinem Austausch in Frankreich war:

„Unser Leben ist so anders verlaufen als in Frankreich, dass unsere Schule notwendig sich in einerständigen Krise befinden muss, die ihr Fruchtbares hat, aber sehr viel mitschleppt, womit wir nicht oder noch nicht fertig werden. Wir hätten es wahrscheinlich einfacher, wenn wir ein Schema für den Ablauf von Schule und Unterricht aufgestellt hätten und ein für allemal dabei blieben. Vielleicht befänden sich auch unsere Kinder in einer einfacheren Situation. Aber wir können nicht zurück, weil unsere geschichtliche Entwicklung uns den Rückweg abgeschnitten hat. Alle unsere neueren Ansätze beginnen mit einer Niederlage des Staates und sind deshalb mit der Reaktion all derer belastet, die diese Niederlage nicht anerkennen, weil sie ihre tieferen Gründe nicht sehen wollen oder können... Wir haben keine Tradition und wenn sich eine bildet, wird sie als Reaktion verdächtigt und ist es auch meist. Damit müssen wir nun fertig werden. Dass sich das auf die Schule auswirkt, ist einleuchtend.“

Als sie ihre Arbeit in Marburg begann, war sie schon 56 Jahre alt, ihre Zivilcourage und ihre Standhaftigkeit, die sie der Naziherrschaft gegenüber bewies, und die zu ihrer Entlassung aus dem Schuldienst geführt hatten, kamen ihr auch jetzt zustatten. Den jungen Kolleginnen und Kollegen machte sie Mut, den überkommenen Denk- und Unterrichtsformen neue Ansätze gegenüberzustellen und neue Inhalte zu erproben. Sie war immer ansprechbar und zu erreichen, auch für einzelne Schülerinnen, und bei aller Deutlichkeit in ihren Ansprüchen doch von großer Toleranz, so dass sie auch für diejenigen, die umzulernen gezwungen waren, eine Gesprächspartnerin, nicht nur „Vorgesetzte“ im alten Sinne, werden konnte. Eine ihrer wesentlichen Aufgaben sah sie in der Förderung der einzelnen Mitglieder ihres Kollegiums, die sie zur Übernahme von Funktionen in Schule und Seminar, ja selbst an der Universität gewann: ganz besonders ermutigte sie die Frauen.

Unvergesslich ist der Klang ihrer hellen Stimme, wenn sie zuerst in der Aula, später im Treppenhaus „Liebe Kinder“ sagte – immer bestrebt – dies mit ihren eigenen Worten: „Ich wollte, dass sich unsere Kinder bei uns wohlfühlen!“

Ein Schwerpunkt in der hessischen Schulreform war die Einführung eines eigenen Faches für die politische Bildung. Zwar hatte man den als anstößig empfundenen Namen „Politischer Unterricht“ bald in „Sozialkunde“ umgewandelt, aber die Ziele blieben: Für verantwortliches demokratisches Handeln sollten die Voraussetzungen geschaffen werden. Da die „Staatsbürgerkunde“ der Weimarer Republik nichts gefruchtet hatte, wollte man neue Wege gehen.

Ein Problem dabei war, dass es für das neue Fach kaum Lehrer gab, die politische Wissenschaften studiert hatten, eine Studienrichtung, die auch an den Universitäten teils wieder, teils neu eingerichtet werden musste. In Hessen entschloss man sich, nicht zu warten, sondern interessierten Teilnehmern im Studienseminar die Möglichkeit zu einer Zusatzprüfung zu eröffnen und außerdem von Lehrern, vor allem denen der verwandten Fächer wie Erdkunde und Geschichte, zu erwarten, dass sie Sozialkundeunterricht erteilten. Frau Hillmann selbst übernahm im Seminar das für alle Referendarinnen und Referendare verbindliche Fach Sozialkunde und vertrat mit großem Engagement die Belange der politischen Bildung. Problematisch erschien es ihr, dass die Auseinandersetzung mit dem Faschismus zunächst dem Fach Geschichte zugewiesen wurde – der Unterricht aber oft genug im ersten wie im zweiten Durchgang nur bis zum Ersten Weltkrieg führte. Sie ermutigte an der Elisabethschule die Behandlung der „Zeitgeschichte“ im Rahmen des Sozialkundeunterrichtes der UII (jetzt Klasse 10) und der UI (Klasse 12), also eine eingehende Behandlung des Nationalsozialismus, über den sie selbst vielen Schülerinnen im eigenen Unterricht als erste genaue Einsichten vermittelte.

Zwölf Jahre lang hat Dorothea Hillmann die Elisabethschule geleitet und ihr ein neues Gesicht verliehen – sowohl im Inneren, wie auch durch das erkämpfte neue Schulgebäude an der Schwangasse. Die Zielsetzungen der inneren Reform werden besonders gut sichtbar an dem von ihr initiierten ersten Schulversuch an der Schule, dem sozialwissenschaftlichen Zweig, der 1950 bereits mit der Quarta (Klasse 7) begonnen wurde. Dieser Versuch orientierte sich u.a. an den „Social Studies“ im angelsächsischen Bereich, die neben der Vermittlung gesellschaftswissenschaftlichen Grundwissens zum Verständnis von Staat, Wirtschaft, Rechtswesen, politischen und sozialen Zusammenhängen auch die Verbindung von Theorie und Praxis anstrebten.

Die Elisabethschule verstärkte in diesem neuen Zweig den Sozialkundeunterricht auf vier Wochenstunden, Latein als dritte Fremdsprache wurde – ab Untersekunda – zum Wahlfach. Besonderes Gewicht aber wurde auf jährliche Praktika und Erkundungen gelegt, dazu aufselbständiges Planen und Arbeiten. So erhielt der sozialwissenschaftliche Zweig einen Praxisbezug und ermöglichte berufskundliche Orientierung, an der viele Schülerinnen damals sehr interessiertwaren.

Die Berichte über den Schulversuch gehen kritisch auf alle Aspekte seiner Verwirklichung ein; die Begründung dafür, dass er 1956 abgebrochen wurde, weist neben der fehlenden Ausstattung mit eigenen Mitteln vor allem darauf hin, dass im Rahmen von „normalem“ Unterricht gerade diejenigen Ziele, die nur durch Einbeziehung der Lebenswirklichkeit erreicht werden konnten, sehr beschränkt realisiert wurden. Dazu kam, dass die mögliche Abwahl der dritten Fremdsprache nach und nach zu einem Verlust gerade der hochmotivierten, kritischen Schülerinnen für diesen Zweig führte, die den ersten Jahrgang getragen hatten. Außerdem brachten die „Bildungspläne für die allgemeinbildenden Schulen im Lande Hessen“ 1956 auch der Elisabethschule den Übergang vom „Staatlichen Realgymnasium“ zum „Neusprachlichen und Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasium“ mit seinen zwei Zweigen. Auch an diesen Bildungsplänen hatte Frau Hillmann vielfältig mitgearbeitet.

„Schwerer Dienste tägliche Bewahrung“ (wie es in Goethes „West-östlichem Divan“ heißt) war die eine Seite von Frau Hillmanns Marburger Jahren, daneben gab es auch die eigene Lebenssphäre in dem mit Büchern an allen Wänden zugestellten Wohn- und Arbeitszimmer im ersten Stock des Hauses am Wilhelmsplatz (Öckershäuser Allee 3), indem ihr im August 1949 endlich „Wohnraum“ zugewiesen worden war, und in dem ihr schwarzer Kater „Herr Tüpfer“ sein Wesen oder Unwesentrieb.

Schon in den 50er Jahren konnte sie erste Auslandsreisen unternehmen: so 1952 eine Studienreise in die USA, 1953 und 1955 nach Rom, das zweite Mal zum internationalen Kongress für Religionsgeschichte. Ihre Reisen nach Italien (u.a. nach Pompeji, Florenz, Siena) und Sizilien, nach Paris und Lissabon galten immer auch kunsthistorischen Studien. Ein Mitreisender erinnert sich an die ungewöhnliche Lebhaftigkeit des Sehens, die ihn an ihr beeindruckte, ihre Begeisterungsfähigkeit und ihren Blick für alles Echte, der sie auch Kunstwerke von geringerer Bedeutung wahrnehmen und schätzen ließ. Besonders wichtig, ja notwendig, war für Frau Hillmann die Reise nach Israel im Jahre 1968, die sie mit einer Gruppe Marburger Pädagogen unternahm.

1971 und 1972 führten ihre Nachforschungen zum Bildmotiv der „Töchter Gottes“ sie nach Österreich, wo sie in Eidlitz und im Stift Reichersberg Zeugnisse fand. Sie konnte die Ergebnissedieser Studien zur christlichen Ikonographie nicht mehr abschließen – alles Material ging nach ihrem Tode an eine Nürnberger Kunsthistorikerin, mit der sie darüber korrespondiert hatte.

„Unüberhörbare Forderungen“ brachten jedoch auch die letzten Lebensjahre: Es blieb genug zu tun. Von 1960 bis 1968 leitete sie die gymnasialen Abendkurse für Berufstätige an der Marburger Volkshochschule, die dann in das eigenständige Abendgymnasium übergingen.

Schon immer hatte sie sich als Stadtverordnete für soziale Fragen engagiert. Als die Mitgliedereiner seit 1963 bestehenden studentischen Initiative für die Kinder in der Barackensiedlung am Krekel öffentliche Förderung für Kinderbetreuung und Hausaufgabenhilfe suchten, fanden sie beider Gründung des „Arbeitskreises Notunterkünfte e.V.“ in Dorothea Hillmann eine 1. Vorsitzende, die sich unermüdlich gemeinsam mit ihnen dafür einsetzte, die Auflösung von Ghetto-Situationen zubewirken, die Bewohner zur Selbsthilfe zu ermutigen. Es gab Rückschläge, aber der „Arbeitskreis Soziale Brennpunkte Marburg“, dessen Vorsitz sie bis Frühjahr 1973 innehatte, dankte ihr in einem Nachruf:

„Mit Dankbarkeit denken wir an ihr Engagement in sozialpolitischen Fragen und besonders für ihren ständigen Einsatz für die Probleme des Krekels und des Waldtals in öffentlichen Gremien.“

In ihrer nüchternen Entschiedenheit bewirkte sie manches, was zu erreichen zunächst unmöglich schien. Die „tätige Liebe“, die sie ausstrahlte, hatte ihren festen Grund in ihrer Zugehörigkeit zur „Gesellschaft der Freunde“, den Quäkern, denen sie sich in der Zeit der Verfolgung verbunden hatte.

Ihr letztes Lebensjahr brachte am 15. Januar 1972 den 80. Geburtstag, den sie im Freundeskreis feierte - nach dem offiziellen Teil am Vormittag. Im Juni dieses Jahres erhielt sie die „Medaille der Stadt Marburg“ und den „Ehrenbrief des Landes Hessen“, Orden lehnte sie für sich ab. In den Morgenstunden des 14. September fand ihr Leben ein Ende.

Die Wohnung in der Ockershäuser Allee 3 hatte sie für die letzte Lebenszeit mit der in einem zurückliegenden Eigenheim bei einem befreundeten Kollegen vertauscht, in dessen Familie sie als Großmutter ehrenhalber aufgenommen wurde. Am 18. September 1973 nahmen die Marburger Abschied von ihr, die für so viele Menschen Orientierung geboten und Maßstäbe gesetzt hatte. Für besonderes soziales Engagement und herausragende Leistungen in den Sozialwissenschaften verleiht die Elisabethschule alljährlich den Dorothea-Hillmann-Preis.