Margot Käßmann
"Ich traue ihr zu, dass sie manche sehr überraschen wird."
Eine ehemalige Elisabethschülerin wird Bischöfin in Hannover
von Karl Prätorius
"..Sie wird zeigen, wie sie ist... Ich traue ihr zu, dass sie manche sehr überraschen wird", so urteilt ihr Vorgänger im Amt, Bischof Horst Hirschler, über die am 5. Juli 1999 gewählte neue Bischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, Margot Käßmann. Sie ist mit 41 Jahren nicht nur die Jüngste im Bischofskollegium, auch die erste Frau an der Spitze der mit rund 3,3 Millionen Mitgliedern größten deutschen evangelischen Landeskirche Hannover.
Das ist schon ein ungewöhnlicher, vermutlich für manche — auch für ihre ehemaligen Lehrer — überraschender Lebensweg der am 3. Juni 1958 in Marburg geborenen und in Stadt Allendorf beheimateten Margot Renate Schulze, die nach dem Besuch der Volksschule am 04. September 1968 als Sextanerin unter der Matrikel - Nr. 2868 in das Schüler-Verzeichnis der Elisabethschule von Frau Heß, unserer damaligen Schulsekretärin, eingetragen wird.
Ihre Eltern betreiben in ihrem Heimatort eine Tankstelle mit angeschlossener Kraftfahrzeugwerkstatt, sind also beide berufstätig, um das Geld für den Lebensunterhalt der Familie aufzubringen. Der Vater, von Beruf Kraftfahrzeugmechaniker, und die aus Hinterpommern stammende Mutter, die während des Krieges in Berlin als Krankenschwester eingesetzt war, finden nach dem Krieg im hessischen (Stadt) Allendorf eine neue Heimat. Sie gründen dort ein eigenes Geschäft, das forthin den Familienalltag weitgehend bestimmt. So haben die drei Kinder schon früh eigene Verantwortungsbereiche, in denen sie klarkommen müssen.
Margot wechselt zum Schuljahr 1968/69 wie vorher schon ihre beiden älteren Schwestern Ursula und Gisela (Abitur 1970 bzw. 1972) von der Volksschule ihres Heimatortes zum Gymnasium, der Elisabethschule in Marburg, und das bedeutet u. a. auch tägliche Fahrt von Allendorf nach Marburg und zurück.
Sie ist der Klasse 5 a (Klassenlehrerin: Frau Dr. Oldiges) zugeteilt. Doch schon nach eineinhalb Jahren, im Februar 1969, wird der Klassenverband teilweise aufgelöst. In den Kernfächern Deutsch, Englisch und Mathematik (später auch in der zweiten Fremdsprache) werden die Schüler der 6. Klasse in drei Leistungsniveaus eingestuft, drei verhältnismäßig homogenen Lerngruppen zugeordnet. (Margot Schulze übrigens zweimal in die jeweilige Gruppe mit dem höchsten Leistungsgrad. Noch junger Studienassessor, war ich so für zweieinhalbe Jahre ihr Mathematik-Lehrer.)
Im Vorfeld anstehender schulischer Veränderungen in Hessen, die unter den Schlagworten Chancengleichheit, Durchlässigkeit, Differenzierung und Emanzipation geführt werden mit dem Ziel der allgemeinen Einführung der Gesamtschule, will die Elisabethschule einen auf zweieinhalbe Jahre begrenzten Schulversuch durchfuhren, um ihrerseits einen praxisorientierten Beitrag zur schulorganisatorischen und pädagogischen Problemdiskussion zu finden und gleichzeitig Schüler, Eltern und Lehrer auf die erwarteten schulpolitischen Entscheidungen vorzubereiten. Die Reformpläne der hessischen Landesregierung zielen im Übrigen nicht nur auf Veränderungen in der Schulorganisation ab, die in einzelnen Städten – auch in Marburg – und Kreisen von Schulentwicklungsplänen begleitet werden, sondern auch auf Veränderung der Bildungspläne; so durch Schaffung eines Curriculums, das Lernziele, Lerninhalte, Lehr- und Unterrichtsmethoden und Lernzielkontrollen für "Primarstufe, Sekundarstufe und Studienstufe" beschreibt. Zur inneren Schulreform gehört in der Mathematik z. B. die Einführung eines neuen Stoffplans, der moderne Denkweisen der Mathematik in den Unterricht (mit Beginn des Schuljahres 1968/69) einbeziehen will und sich an Leitbegriffen wie Menge, Struktur und Abbildung, orientiert. Auch in der Oberstufe greifen erste Reformen auf dem Weg hin zur neugestalteten gymnasialen Oberstufe; so werden die Fächer Deutsch, Religion, Sport und Erdkunde seit 1968 in Form eines Kurs- und Lehrgangssystems unterrichtet.
Diese wenigen Hinweise mögen genügen um zu begreifen, in welcher Umbruchphase, in welchem Neuerungsprozess das Gymnasium die Unterstufenschüler damaliger Zeit ihren gymnasialen Bildungsweg antreten. Die schulische Laufbahn von Margot Schulze erfährt eine wichtige Erweiterung dadurch, dass sie in das ASSIST-Prograinm aufgenommen wird und ein Jahresstipendium für den Besuch einer amerikanischen Schule, der "The Hotchkin School" in Lakeville, erhält. Von August 1974 bis Juni 1975, ihre 11. Klasse also, verbringt sie in einem nordamerikanischen Internat.
Dieses Jahr ist für ihren weiteren Lebensweg in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Während ihres Auslandaufenthaltes stirbt ihr Vater. In Amerika wächst aber auch in ihr der Entschluss heran, nach dem Abitur, das sie im Sommer 1977 an der Elisabethschule ablegt, das Theologiestudium aufzunehmen. Schließlich sind ihre amerikanischen Erfahrungen und der Erwerb sehr guter englischer Sprachkenntnisse für sie später hilfreich, schon als junge Theologin verantwortliche Aufgaben im Ökumenischen Rat der Kirchen wahrzunehmen.
Thema einer Geschichtsarbeit, die sie in der nordamerikanischen Schule anfertigt, ist Martin Luther King. Sie ist tief beeindruckt von dieser Persönlichkeit, von dem Mann, der sehr fromm mit der Bibel lebt, ein großer Prediger ist und sich so klar für Bürgerrechtsfragen engagiert, für den Frömmigkeit und gesellschaftliches Engagement nicht getrennt sind, sondern eines. Dies hat ihr so sehr imponiert, dass sie, nach eigenem Bekunden, über die christliche Erziehung im Elternhaus hinaus einen eigenen, neuen Zugang zum Glauben findet und in ihr die Lust geweckt wird, daran weiter zu arbeiten und Theologie zu studieren, zunächst allerdings nicht mit dem Ziel, Gemeindepfarrerin zu werden.
Margot Käßmann, verheiratet mit Pfarrer Eckhard Käßmann, wird dann 1985 doch Pfarrerin, und zwar der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck im nordhessischen Kirchspiel Spieskappel. Nach wie vor gehören für sie Frömmigkeit und Verantwortung, christlicher Glaube und gesellschaftliches Engagement zusammen. Davon zeugt auch die 1989 während eines zweijährigen Erziehungsurlaubs nach der Geburt ihrer Zwillinge – sie ist Mutter von vier Mädchen – verfassten Dissertation: "Armut und Reichtum als Anfrage an die Einheit der Kirche". Auf dem geistlichen Fundamentum, dass Gott allen die gleiche Würde zusagt, mahnt sie wiederholt den Staat an, so in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung kurz vor Weihnachten 1999, wachsam zu bleiben, den Kapitalismus sozial zu bändigen, den Primat der Politik über den Markt zu verteidigen und auch, bei aller Bejahung von Leistung, nicht die zu vergessen, die mit der Leistungsgesellschaft nicht mithalten können. Die Botschaft der Rechtfertigung lautet im Kern für sie, dass auch die, die aus der Gesellschaft herausfallen, als Geschöpfe Gottes genauso viel Wert sind, wie die Anerkannten. So möchte sie Kirche aus der Defensive, gewissermaßen nur nachrangig zur wirtschaftlichen Praxis tätig zu sein, herausbringen. Sie will Kirche auch nicht als Reparaturbetrieb eines übersteigerten Kapitalismus verstanden wissen.
Seit 1994 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Fulda, stellt sich am 05. Juni 1999 Dr. Margot Käßmann der Synode der Hannoverschen Landeskirche bestärkt von ihrer Familie (Ehemann: "Wenn schon Frauen gefragt sind, kannst Du Dich nicht zurückziehen"), Freunden und Kollegen, zur Wahl in die höchste Position, die die Kirche zu vergeben hat, nämlich das Bischofsamt. Sie kann die Mehrheit der Stimmen für sich gewinnen, keinesfalls jedoch alle Synodalen überzeugen. Zu groß ist (auch) hier (noch) traditionelles Denken: zu weltoffen, zu intellektuell, zu ehrgeizig, zu jung, .... Aber, wie sagte doch Altbischof D. Hirschler? "Ich traue ihr zu, dass sie manche überraschen wird". — Am 4. September 1999 wird sie feierlich in ihr neues Amt eingeführt unter großer Anteilnahme der Gemeinde, begleitet von einem fröhlichen Fest rund um die Marktkirche von Hannover — ganz im Sinne der neuen Bischöfin, die die Kirche gern etwas fröhlicher hätte.
Und worin sieht sie die Existenzberechtigung und damit auch die Aufgaben der Kirche? Wir haben davon zu reden, so in einem Fernsehporträt, dass der Mensch nicht von sich selbst stammt. Und die Kirche muss dem Menschen helfen, die Frage nach dem Sinn des Lebens viel früher zu stellen als im Alter oder gar in der Nähe des Sterbens. Sie muss den Glauben der Menschen stärken, Spiritualität pflegen - und das im harten (politischen) Alltagsgeschäft. Sie muss Gottes Zusage und menschliche Werte vermitteln, der christlichen Botschaft eine zeitgemäße Sprache und Bedeutung geben, sich auf den Dialog mit den Menschen einlassen, soziale Gerechtigkeit einfordern, auf die Sozialpflichtigkeit des Erfolgs immer wieder mahnend hinweisen. Kirche muss den Menschen helfen, Kirche (wieder) für sich als etwas eigenes zu entdecken.
Die Elisabethschule wünscht ihrer ehemaligen Schülerin Dr. Margot Käßmann, der neuen Landesbischöfin von Hannover, Gottes Segen für ihre Arbeit und dass sie kraftvoll und mit Freude manche, vielleicht sogar viele ihrer Visionen umsetzen kann.