14.01.2020
Zur Erinnerung an Prof. Dr. Friedrich Carl Sell
1933 bis 1937 Lehrer an der Elisabethschule
Von Jürgen Hahn-Schröder
Es war einmal ein kleiner Junge, der war am 6. Januar 1892 in Bonn geboren worden. Diese Stadt gehörte zu Preußen und dem Deutschen Reich, dessen Staatsoberhaupt Kaiser Wilhelm II. war. Der Vater des kleinen Jungen war der Professor der Kirchengeschichte, Dr. Karl Sell, und ein angesehener Gelehrter an der Universität. Die junge Mutter, Juliane, achtete bei Fritz, wie sie ihn in der Familie nannten, genau wie beim älteren Bruder Max besonders darauf, dass die Jungen etwas wurden. Dazu gehörte vor allem eine gute Ausbildung. So besuchte Fritz zuerst die Vorschule, anschließend das Städtische Gymnasium, wo er 1910 Abitur machte. Er wuchs in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus behütet und gefördert in einer Weise auf, wie das weniger als 5% seines Geburtsjahrgangs zuteil wurde. Als der Erste Weltkrieg begann, hatte er bereits vier seiner sechs Studienjahre bis zu seinem Abschluss in den Universitätsorten Bonn, Leipzig und Heidelberg verbracht und machte sein 1. Lehrerexamen mit den Fächern Latein, Geschichte und Deutsch mitten im Ersten Weltkrieg.
Er wurde zum Militärdienst zuerst ins Lazarett als Sanitäter eingezogen und dann als Assistent für Internationales Recht an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel und als Leiter des Kriegsarchivs für Völkerrecht eingesetzt. Das Schicksal war ihm gewogen, er musste sein Leben nicht als Soldat in die Schanze werfen. Stattdessen folgte er den Spuren seines Vaters und Großvaters, der auch schon Universitätsprofessor gewesen war und studierte fleißig und zielstrebig, so dass er seine literaturhistorischen Studien im Mai 1919 mit einer Doktorarbeit über Jean Paul erfolgreich abschloss.
Zu seinem Lebensglück gehörte auch, dass er in dieser Zeit seine Frau fürs Leben fand, sich verlobte und sie im Frühjahr 1920 heiratete. Else Sell, geb. David, entstammte einer alteingesessenen Bonner Familie assimilierter Juden.
Das junge Paar bezog eine gemeinsame Wohnung in Bad-Godesberg, Dr. Friedrich Sell erhielt eine Planstelle als Beamter an einem Gymnasium und ihre Töchter Cornelia und Marianne wurden 1921 und 1924 in Bad Godesberg geboren. Während sich also das private Familienglück sehr positiv entwickelte, kann vom gesellschaftlichen Umfeld in diesen Zeiten das Gleiche nicht behauptet werden. Nach der Kriegsniederlage des Kaiserreichs kam es mittels der Novemberrevolution zur Gründung der Weimarer Republik. Das war keine einfache und von allen bisherigen Mitgliedern der alten Kaiserreich-Eliten auch keineswegs begrüßte Entwicklung, sodass sich eine Zeit politischer Unruhen und wirtschaftlicher Unsicherheiten anschloss. Nach dem Ende dieser politischen Unruhen und der größten wirtschaftlichen Unsicherheiten, die u.a. bestimmt waren vom Hitler-Ludendorff-Putsch, der Hyper-Inflation und der Währungsreform, kam es ab 1924 zu einer stabilen Phase der Weimarer Republik.
Neben allem Fleiß, großer Klugheit und Zielstrebigkeit gehörte für Friedrich Sells weiteren beruflichen Werdegang seine persönliche Bekanntschaft (ja sogar Freundschaft) mit einem der bedeutendsten und bekanntesten Bildungspolitiker Preußens in der Weimarer Republik; dem Orientalisten Prof. Dr. Carl Heinrich Becker, zu einem nicht unwichtigen Faktor. So wurde er Ende 1928 in das Kultusministerium abgeordnet und arbeitete mit am Bildungsplan für die Pädagogischen Akademien, in der die akademische Ausbildung der Volksschullehrerschaft betrieben werden sollte. Das Ministerium besetzte mit ihm bei der Neugründung der Pädagogischen Akademie 1930 in Kassel die Professur für Geschichte.
Das Land Preußen schloss aber die frisch eröffnete Akademie bereits zum 1.4.1932 aus Spargründen wieder und versetzte Prof. Sell in den Ruhestand. Gegen diese Maßnahme protestierte Prof. Sell erfolgreich, denn er wollte arbeiten, sich für die Verbesserung des Bildungswesens selbst aktiv einsetzen und mit seinen gerade einmal 40 Jahren nicht zum Ruheständler gemacht werden. So kam er über das Kasseler Bezirkslehrerseminar in die Provinz: an die Elisabethschule. Mit ihm kamen seine Frau Else und seinen beiden Töchter Cornelia und Marianne im Schuljahr 1933/34 nach Marburg. Sie zogen in den Renthof 22, von wo aus der Schulweg für Vater und Töchter zur Elisabethschule in der Universitätsstraße 6 nicht weit war.
Genau in dieser Phase errichteten die Nationalsozialisten ihren neuen diktatorischen Staat, wobei sie die möglichst vollständige Außerkraftsetzung aller demokratisch-republikanischen Verhältnisse in Staat und Gesellschaft betrieben.
Prof. Dr. phil. Stud.Rat Friedrich Sell – so steht es in seiner Marburger Meldekarte amtlich geschrieben – unterrichtete entgegen dem Zeitgeist, aber zur Freude vieler Schülerinnen in den folgenden vier Schuljahren mit Klugheit, Umsicht und gutem Mut an der ES. Seine Arbeit wurde in der Schule sehr geschätzt, er wurde in die Latein-Prüfungskommission berufen und mit Ausbildungsaufgaben für die Referendarinnen und Referendare betraut. Aber: In seinem fünften Jahr an der Schule, dem Schuljahr 1937/38 wurde er auf Betreiben des örtlichen Kreisschulamtsleiters namens Oskar Wolf, der ein fanatischer Nazi war, und auf Geheiß höherer staatlicher Stellen vom Direktor der ES vom Unterricht freigesetzt, bevor ihn die zuständige Behörde zum 1.10. 1937 in den unwiderruflichen Ruhestand versetzte.
Prof. Sell wies als Beamter und Ehemann aus nationalsozialistischer Sicht einen doppelten Makel auf: Er stand als so genannter „liberalistischer“ Lehrer der Umsetzung des völkischen Erziehungsprogramms unter dem Ministerpräsidenten Göring (NSDAP) und dem Kultusminster Rust (NSDAP) im Wege. Und zweitens: Das von der Familie Sell gelebte christliche Glaubensbekenntnis, ihre Zugehörigkeit zur protestantischen christlichen Kirche, galt für die Mutter und ihre beiden Töchter nichts oder wenig im Lichte des rassistisch-antisemitischen Konzepts einer Zuschreibung des ideologisch motivierten Hirngespinstes einer sogenannten jüdischen Rasse. Dazu passte die völlig aus der Luft gegriffene Mutmaßung über die Ehefrau Else in einem „streng vertraulichen“ Denunziationsschreiben für das Entlassungsverfahren von Prof. Sell: Sie sei eine „englische Jüdin“.
Die in der Weimarer Reichsverfassung zuvor hergestellte Rechtsgleichheit aller Staatsbürger war aufgehoben und die verfassungsrechtlich geschützte Religionszugehörigkeit im Falle jüdischer Abstammung zu einem grundsätzlichen und auch staatlich zu verfolgenden Makel erklärt worden.
Der Familie Sell gelang im Juni 1938 die Ausreise, die Flucht vor den Nazis in die Vereinigten Staaten, wo sie jenseits des Atlantiks und des von den Nazis selbst so genannten „Tausendjährigen Reichs“ nach ihrer Ankunft ihr Familienglück in South Hadley (Mass.) fanden, wo Prof. Sell am dortigen Mount Holyoke College bis zu seinem Tod im Jahr 1956 auch wieder als Hochschullehrer und Direktor der deutschen Abteilung tätig wurde.
Von den Nazis war die Familie Sell 1941 ausgebürgert worden, neuer amerikanischer Staatsbürger wurde Prof. Sell 1945. Nun half er seinem Freund aus Marburger Zeiten, Prof. Rudolf Bultmann, indem er bei seinen Studentinnen am College eine Partnerschaft für die Bultmanns initiierte, die dazu führte, dass die Bultmanns in der schwierigen Nachkriegszeit 14-tägig Care-Pakete aus South Hadley erhielten. Und die beiden Freunde blieben im persönlichen, wissenschaftlichen und politischen Austausch bis zu Friedrich Sells Tod 1956 und fragten sich besorgt, was würde unter den Bedingungen der Neugründung der beiden deutschen Staaten aus dem Antisemitismus, den so viele Menschen in der Nazizeit mitgetragen und verinnerlicht hatten, wohl werden.
Würde die deutsche Gesellschaft in Zukunft bereit sein, aus den Erfahrungen des Holocausts zu lernen und gefeit sein vor neu aufkommendem Antisemitismus?
(Bildnachweis – und Unterschrift in den Erinnerungen von Lynn Meins, der ältesten Tochter von Marianne Buckingham, geb. Sell; vgl. dazu die Erinnerungen der Enkeltochter Lynn Meins an ihre Großeltern Frederic und Else: „Mount Holyoke: A Haven from the Holocaust“. 2015) Quelle:
https://alumnae.mtholyoke.edu/blog/mount-holyoke-a-haven-from-the-holocaust/
(Zugriff 14.06.2019)